Schiller, wo bist du?“, ruft Philipp Hochmair in ein Rohr. Antwort bekommt er keine – denn hier, auf der Bühne des Wiener Burgtheaters, ist Schiller nicht der Dichter, mit dessen Ergüssen wir als verständnislose Teenager auf unbequemen Schulbänken gequält wurden. Er ist eine Aufgabe, ein Konstrukt vergangener Tage und doch relevant im Jetzt – an dem der Schauspieler sich reibt, an dem er sich abarbeitet, schweißtreibend, intensiv. Nicht umsonst ist Hochmair in Bauarbeiterkluft. Hinter ihm stehen seine Bühnenbildner, die drei Musiker, die mit ihm diese Klangwelt bauen. Gemeinsam sind sie die Elektroband Gottes, präsentieren hier das Album „Schiller Balladen Rave“. Als „Drachenritt“ bezeichnet Hochmair den Abend im Vorgespräch, und tatsächlich erinnert er während seiner Performance an einen Dompteur, wenn er sich den Balladen mit erhobenen Armen nähert.
Die exakte Sprache des Dichters prasselt auf die Zuseher ein, mal amüsant, mal angsteinflößend, mal an der Grenze des Fassbaren. Das Wettrennen mit dem Tod des Freundes in der „Bürgschaft“, die Dekadenz des „Handschuhs“, das elterliche Grauen im „Erlkönig“, denn ja, auch Goethe darf hier sein Gastspiel haben. Den Abschluss macht „Das Lied von der Glocke“, „ein Ausflug in die Industrie“, wie es Hochmair (halb) scherzhaft ankündigt. Denn das monumentale Gedicht baut sich vor uns auf wie ein Hochofen, schlägt uns sengend heiß ins Gesicht und will einfach kein Ende nehmen, bevor wir nicht kleinlaut kapitulieren vor der Macht der Sprache. Hochmairs Schiller ist nicht altmodisches Deutsch auf verstaubtem Papier, er ist eine körperliche Erfahrung, fordernd, (er)schöpfend. Schillers Worte sind ein strenges Konstrukt, die Musik lässt Improvisationsspielraum, gemeinsam werden beide zum fließenden Kunstwerk, immer ein bisschen anders. „Die Sprache gibt ein klares Korsett vor, das sich dann immer ganz neu auflädt“, schildert Hochmair, „wie ein Schwamm, der sich neu ansaugt und den man dann wieder auswringen kann. Ich vertraue auf die Energie und die Eigenverantwortung der Künstler, die ich für meine Projekte engagiere, oftmals auch ganz spontan frage, mitzumachen. Wir passen uns an den Raum, das Publikum, die Stimmung, an den Moment an. Im Gegensatz zum klassischen Gastspielvorgang, wo die jeweilige Inszenierung und das Bühnenbild immer wieder gleich reproduziert werden. So was interessiert mich weniger. Bei uns ist zwangsläufig jeder Auftritt, jedes Gastspiel anders.“
Die Welt im Umbruch
Sein Interesse gilt dem Dialog – zwischen den Darstellern und dem Publikum, zwischen Musik und gesprochenem Wort, zwischen Gegenwart und Historie. Hier hat er sich mit Schiller und Goethe spannende Gesprächspartner ausgesucht. Die Auseinandersetzung mit dem Menschen als vernunftbegabtes und gleichzeitig intensiv fühlendes Wesen ist es, was das Werk dieser Dichter prägt. Sie sind die ganz Großen der Aufklärung, die Zeitzeugen eines gesellschaftlichen Aufbruchs, wie man ihn bis dahin nicht kannte: das Aufkommen der Naturwissenschaften, die Trennung von Kirche und Staat, das Entstehen des Nationalstaates. In dieser Zeit formen sich die Grundlagen unserer Gesellschaft, die bis ins Heute gelten. „Auch jetzt sind wir in einer Zeit des radikalen Umbruchs, des absoluten Wandels“, ist Hochmair überzeugt, „insofern erkenne ich die Kräfte und Tendenzen, die Schiller beschreibt, wieder.“ Besonders angetan hat es ihm in diesem Zusammenhang Schillers Gedicht „Zeit der Wende“ – auch wenn es im Rave nicht am Programm steht: „Es ist unglaublich, wie aktuell diese Zeilen sind und gleichzeitig auch so hoffnungsvoll. Es ist ein Plädoyer für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Respekt für die Natur, dafür, dass wir uns von Neid und Angst lösen und gemeinsam in die Zukunft schauen.“
Auch Goethe habe beispielsweise in seinem Faust II prophetische Gabe bewiesen, wenn auch weit weniger optimistisch: Mephisto, als Hofnarr verkleidet, führt am Kaiserhof das Papiergeld ein, das letztlich nicht gedeckt ist. Faust bringt in seinem Verlangen, Herr über die Natur zu sein, Zerstörung und Tod. „In Faust II geht es um die Zerstörung der Welt. Die Erfindung der Dampfmaschine und die Erfindung des Papiergeldes in Kombination. Damit konnte Goethe die Probleme, mit denen wir jetzt umgehen müssen, imaginieren – wir haben die Welt heute praktisch zerstört, die Natur ist schwerstens beschädigt. Ich kann nicht ermessen, wo dieser Irrsinn hinführt – dazu kommt die Digitale Revolution, die unser Denken, unser soziales Verhalten, unsere Kommunikation völlig verändert.“ Auf die Frage, was Schiller über die heutige Weltbühne wohl denken würde, entfährt Hochmair ein schnaubendes Lachen – zu Schillers Zeit sei das Vertrauen in den menschlichen Geist als rational und vernunftbegabt eine neue Erfindung gewesen, meint er, eine Rückbesinnung darauf würde uns sicherlich guttun. Aber wer weiß: „Vielleicht gibt es kein Zurück mehr.“
Unversucht will er es aber dann doch nicht lassen: „Ein Abend wie dieser ist auch der Versuch, diese Geschichten zu tradieren und am Leben zu halten“, meint er, und ein wehmütiger Beiklang mischt sich in seine Stimme, „als ich Kind war, hat mein Vater immer wieder Zitate aus den großen Schillerballaden im Alltag verwendet – das war ganz normal, man wusste, woher die Sätze stammen. Heute ist die Sprache eine ganz andere.“ In diesem Zusammenhang vielleicht interessant: „Cringe“ ist das deutsche Jugendwort 2021, es konnte sich gegen „sheesh“, „sus“ oder „papatastisch“ durchsetzen. Und bei aller Wertschätzung für die Lebendigkeit und den Wandel der Sprache mag sich so mancher von uns zurücksehnen nach „drum prüfe, wer sich ewig bindet“ und „wehe, wenn sie losgelassen“. Als Provokation will er seine Herangehensweise weniger verstanden wissen: „Ja, ich wähle vielleicht gerne grelle, persönliche, schräge Herangehensweisen. Nicht um der Schrägheit willen, sondern um des Inhalts willen. Also, wenn Sie so wollen, eine positive Provokation, eine Einladung zum Perspektivenwechsel.“
Das Spiel mit der Geschichte
Die Verknüpfung von Aktuell und Historisch sei schon seit der Schauspielschule und davor ein Thema für ihn – auch privat. „In einer Wohnung würde ich es genauso machen. Mit neuen Materialien arbeiten im geschichtlichen Kontext. Diesen Bruch respektiere ich und mache ihn zum Thema.“ Vielleicht ist es das, was ihn mit dem Handwerk verbindet – und damit schlagen wir den Bogen zum Wesen dieses Magazins –, der wertschätzende Umgang mit Althergebrachtem, Materialien, Räumen. „Bei meiner Arbeit komme ich oft mit Handwerkern und Architekten in Kontakt – Hauptfrage ist immer: Wie klingen und schwingen Räume? Wie lasse ich diese Räume zu sich kommen? Wie lade ich sie mit Inhalt auf?“ Raumerhaltung und -gestaltung sei etwas, das ihn fasziniere, wie Städte sich architektonisch aufbauen, was sich hält, was abgerissen wird. „Ich bin ja auch auf der Bühne in der Bauarbeiterkluft im Schiller-Steinbruch, klopfe auf meinen komischen Baugeräten herum, suche, konstruiere.“ Das sei es auch, was ihn an den Historienverfilmungen reize, in denen man ihn so oft sieht – Freud, Charité, Maria Theresia, um nur einige zu nennen. „Mich interessiert die Frage: Wie verändert sich die Welt über die Zeit, wo liegt die Wahrheit, wie funktioniert das Leben?“
Vergessen ist keine Option
Das nächste Projekt steht auch schon in den Startlöchern: die Wannseekonferenz. „Heydrich hätte ich mir persönlich nicht ausgesucht. Aber ich bin jetzt sehr froh, dass ich diese Erfahrung machen konnte – der Fall ist so furchtbar, dass man es kaum in Worte fassen kann. Aber sich dem zu stellen und gegen das Vergessen anzukämpfen ist enorm wichtig. Diese Dreharbeiten waren eine einzigartige Erfahrung und Herausforderung, die mich wirklich an meine Grenzen gebracht haben“, erzählt Hochmair über seine Rolle als SS-General Reinhard Heydrich, Architekt der „Endlösung der Judenfrage“ im Dritten Reich: „Es ist ein verstörender Vorgang, die Täterperspektive einzunehmen. Und gleichzeitig fragt man sich, warum Menschen überhaupt zu so was fähig sind.“ Aber Vergessen sei auch keine Option: „Meine persönliche Motivation, bei dem Projekt dabei zu sein war, mit dem Film die Ungeheuerlichkeit dieses Genozids aufzuzeigen und so gegen das Vergessen vorzugehen“, sagt der Schauspieler und zieht den Konnex zur Gegenwart: „Die Aufarbeitung der NS-Zeit wird in Österreich bis heute immer noch zögerlich unternommen und oft immer noch verdrängt. Zudem sehen wir ein stetiges Anwachsen eines alten Antisemitismus gegen Juden als Rasse und das Erwachen eines neuen Antisemitismus, der sich als Kritik an der jüdischen Kultur und am Staat Israel äußert. Umso wichtiger finde ich es, Erinnerungskultur zu betreiben.“
Wird man im Zuge eines solchen Projektes sensibler für die Töne, die in der aktuellen politischen Diskussion angeschlagen werden? „Natürlich“, erklärt Hochmair, „aber mit solchen Vergleichen muss man sehr vorsichtig sein. Was wir in der politischen Kultur derzeit erleben, ist meiner Meinung nach eine Verrohung der Sprache. Mit der Unmenschlichkeit einer Wannseekonferenz ist das nicht vergleichbar. Trotzdem sollten wir in einer Diskussion – beispielsweise in der Flüchtlingsdebatte – niemals vergessen, dass wir über Menschen sprechen.“
Privat ist Privat
Was sein Privatleben angeht, gibt sich Hochmair kryptisch. Warum? Möchte er Privates privat halten – oder ist es Kalkül? Schließlich ist der Schauspieler Projektionsfläche für seine Rollen, und je weniger wir über ihn wissen, umso eher bleibt er das auch. „Mein Privatleben ist privat“, sagt er. „Ich kann sagen, dass meine Familie und Freunde mir wichtig sind – aber ich lebe meine Projekte so, dass ich im Moment auch alles andere um mich herum vergessen kann.“ So sehr lässt er sich in seine Rollen fallen, dass nach seiner Darstellung des Schurken Joachim Schnitzler in den Vorstadtweibern seine eigene sexuelle Orientierung in den Mittelpunkt des Interesses rückt: „Meine Rolle in den Vorstadtweibern ist schwul, und plötzlich taucht die Frage auf, ob ich schwul bin. Und dann die Frage: Können oder dürfen Schwule Heteros spielen und umgekehrt? Was ist glaubhaft, was ist die Wahrheit? Wer ist man wirklich? Passt das zusammen? Wer ist der Privatmensch hinter der Rolle?“ Vor allem letztere Frage wird wohl unbeantwortet bleiben – zumindest, wenn es um Beziehungen geht. Aber – wie könnte es anders sein in dieser Ausgabe – nun muss auch Weihnachten Thema sein. „Ich begreife die Weihnachtszeit als Jahresabschluss, als Wendepunkt – wesentlich stärker als beispielsweise Geburtstage“, schildert der Schauspieler. Das mit dem Schenken allerdings ist eine andere Sache. „Generell muss ich sagen: Aus Pflicht schenken, weil Weihnachten ist, finde ich zweckentfremdet. Wenn ein Gegenstand die Hände wechselt, dann sollte das kein Pflichtakt sein, sondern vielmehr einer der Kommunikation. Ich selbst schenke am liebsten Dinge, die ich zufällig finde und die zu einer Person passen. Dann wird die Beziehung zu dem Menschen durch dieses Objekt erweitert und vertieft.“ In diesem Sinne können wir uns wieder auf Schiller zurückbesinnen – und Weihnachten als unsere eigene kleine „Zeit der Wende“ begreifen.